Interview
Große Lücken, kleine Schritte
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Große Lücken, kleine Schritte
20 MILLIONEN BETROFFENE AUS GANZ EUROPA - UND DOCH MARKIERT DAS THEMAZWANGSARBEIT EINE LÜCKE IN DER ERINNERUNGSKULTUR. IN LEIPZIG KÄMPFT EINE KLEINEGEDENSTÄTTE GEGEN DAS VERGESSEN.
Gebäude 0.1 des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung ist ein kleiner, unscheinbarer
Flachbau. Ein Raum von vielleicht 20 Quadratmetern. Die Toilette ist im Nachbarhaus. Gebäude
0.1 aber ist kein Wartezimmer, kein Pförtnerhäuschen, kein Lagerraum. Hier wird an das Leid von
60.000 Menschen erinnert. 60.000 Menschen, die zwischen 1939 und 1945 vom NS-Regime zur
Zwangsarbeit in Leipzig gezwungen wurden. Einige "Freiwillige", vor allem aber KZ-Häftlinge und
Kriegsgefangene. Geschuftet haben die meisten von ihnen im Stammwerk der Hugo-Schneider-
Aktiengesellschaft (HASAG), dem größten sächsischen Rüstungsbetrieb. Dort, wo heute Gebäude
0.1 steht: die Leipziger Gedenkstätte für Zwangsarbeit. Als sie 2001 eröffnete, war sie die erste
ihrer Art - in ganz Europa. Fast 60 Jahre nach Kriegsende.
"Die Größe unserer Gedenkstätte steht leider sinnbildlich für unsere Erinnerungskultur zur
Zwangsarbeit", sagt Anja Kruse, eine der drei festen Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte. "Im
öffentlichen Diskurs ist Zwangsarbeit ein Randthema." Immer wieder erlebe sie Besucher, die fast
nichts über Zwangsarbeit während er NS-Zeit wissen. "'Vernichtung durch Arbeit' ist vielen noch
ein Begriff." Aber das Ausmaß kenne kaum jemand: Insgesamt 20 Millionen Menschen hat das
NS-Regime zur Arbeit gezwungen. Viele Konzentrationslager hatten Außenlager in der Nähe
großer Industriekonzerne, so auch das KZ Buchenwald am Leipziger HASAG-Werk. Aber auch in
Haushalten, bei Handwerkern und den Stadtwerken arbeiteten sie. An der Wand der
Gedenkstätte hängt ein Stadtplan, übersät mit kleinen roten Nadeln. Sie stecken im Zentrum und
am Stadtrand, im Norden und im Süden. Der Plan zeigt Leipzig, anno 1940. Jede Nadel markiert
einen Ort, an dem während des Zweiten Weltkrieges Zwangsarbeiter untergebracht waren:
Baracken und Fabrikgebäude, Turnhallen und Hotels, Schulen und Privathaushalte. Zwangsarbeit,
das war Alltag. Und doch: Zwangsarbeit während der NS-Zeit - fast fehlt sie im öffentlichen
Raum, in Lehrplänen, in Köpfen. "Viele sind bei ihrem Besuch der Gedenkstätte überrascht, fast
entsetzt über ihr Unwissen", erzählt Kruse.
Die Gedenkstätte erinnert an Schicksale wie das von Egbert Jan Beumkes. Der junge
Niederländer arbeitete in einer Papierfabrik in der kleinen Gemeinde Loenen und stand kurz vor
seinem 19. Geburtstag, als die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 sein Heimatland besetze. Um
die Kriegswirtschaft am Laufen zu halten, war das Deutsche Reich auf Millionen ausländischer
Arbeitskräfte angewiesen. So wurden im Sommer 1942 auch Beumkes und 16 seiner Kollegen
aus der Papierfabrik in einem Lastwagen zum Bahnhof gebracht, und von dort mit dem Zug zum
Arbeitsdienst nach Leipzig verschleppt. Dort mussten die jungen Niederländer für die HASAG in
12-Stunden-Schichten Granaten, Munition und Panzerfäuste herstellen. Sein Vater sei zusammen
mit anderen Niederländern in einem Barackenlager auf dem Fabrikgelände untergebracht
gewesen, erzählt sein Sohn Stef, der die Erinnerungen seines Vaters gesammelt und in einem
Buch niedergeschrieben hat. Anfangs habe er sich frei in Leipzig bewegen dürfen. Anderen
Zwangsarbeitern wäre es da viel schlechter ergangen. Besonders Menschen aus Osteuropa
hätten unter schlechter Versorgung und der grausamen Behandlung durch das Wachpersonal
gelitten. Einmal sei eine Frau während der Arbeit zusammengebrochen und den ganzen Tag auf
dem Boden liegen geblieben.
In der Gedenkstätte stutzen heute viele Besucher, wenn sie neben der mit roten Pinnadeln
übersäten Stadtplan auch Fotos lächelnder und wohlgenährter Zwangsarbeiter zu sehen
bekommen. "Es stimmt", sagt Kruse. "Nicht allen Arbeitern ging es gleich schlecht." Holländer,
Belgier und Franzosen wurden anfangs besser versorgt und hatten die Möglichkeit ihr Lager zu
verlassen, während Sowjetische Kriegsgefangene und vor allem KZ-Häftlinge wenig zu essen
bekamen und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen zu leiden hatten. Doch gegen
Kriegsende wurden auch den westeuropäischen Zwangsarbeitern zunehmend schlechter
behandelt. "Die Zwangsarbeit fehlt nicht in der Erinnerungskultur, weil die Bilder ausgemergelter
Menschen fehlen", glaubt Kruse. Den Grund für die Lücke sieht Kruse vielmehr im politischen
Handeln: Den Zwangsarbeitern wurden jegliche Entschädigungen verweigert. Bundesregierungen
und Betriebe lehnten die Verantwortung ab, auch vor Gericht scheiterten Betroffene. Erst
Jahrzehnte später entstand eine Debatte über die Entschädigung der Zwangsarbeiter, die vielen
zumindest einen kleinen Betrag brachte. Egbert Beumkes bekam 1980 tatsächlich eine
Rentenzahlung von 20 DM pro Monat zugesprochen. Nicht der Geldbetrag, aber das Zeichen der
Entschuldigung sei für seinen Vater sehr wichtig gewesen, erinnert sich Stef Beumkes. Viele Opfer
der NS- Zwangsarbeit erhielten zu Lebzeiten aber weder einen Geldbetrag, noch eine offizielle
Entschuldigung. "Man hat das Problem biologisch gelöst", sagt Kruse bitter. "Das Thema
Zwangsarbeit wurde im wahrsten Sinne totgeschwiegen."
Geschwiegen hat auch Egbert Jan Beumkes, der nach Kriegsende schwer erkrankt in die
Niederlande zurückkehrte. Jahrelang sprach er mit niemandem über seine Zeit in Leipzig. Erst als
sein Sohn Stef 16 Jahre alt war, brach er sein Schweigen. "Mein Vater wollte vor allem eines",
erzählt Stef Beumkes via Sykpe: "mir klarmachen, was Krieg wirklich bedeutet."
Ohne Zeitzeugen und ihre Angehörigen würde es die Gedenkstätte heute wohl nicht geben.
Schon in den 1990er Jahren besuchten sie immer wieder das HASAG-Gelände, drängten auf
Gründung der Gedenkstätte. 18 Jahre ist das her. "Jetzt werden wir schon volljährig", lacht Kruse.
Sie und ihre Kollegen beschränken sich nicht auf die kleine Dauerausstellung und den Gang ins
Archiv. Immer wieder führen Stadtteilrundgänge an authentische Orte im ganzen Stadtgebiet, an
denen Zwangsarbeiter gelebt oder gearbeitet haben. "Wir wollen die Zwangsarbeit greifbar
machen und die Menschen zum Nachdenken bringen." Deshalb ist nicht nur die Gedenkstätte
unverzichtbar für die Zeitzeugen - das gilt auch umgekehrt. Kruse formuliert es so: "Ein alter
Mann ist eindrücklicher als eine Infotafel". Das Problem ist nur: Die Zeitzeugen sterben. In
früheren Jahren haben regelmäßig ganze Familien die Gedenkstätte besucht. In den beiden
Jahren 2017 und 2018 kamen insgesamt nur drei von ihnen nach Leipzig, "anderthalb pro Jahr."
Umso wichtiger werden Menschen wie Stef Beumkes.
Jahrelanger hat der 64-järhige Berichte von Zeitzeugen gesammelt, mit ihnen und ihren
Angehörigen geredet. "Ich will, die Erinnerungen an die Zwangsarbeit wachhalten und gegen das
Vergessen ankämpfen", sagt er. Immer wieder hat er in den letzten Jahren ehemalige
Zwangsarbeiter und deren Angehörige hierhin gebracht. Nur sein Vater habe ihn nie nach Leipzig
begleitet, berichtet Stef Beumkes etwas resigniert. Kurz nach der Wiedervereinigung 1991 hätten
sie zusammen Leipzig besuchen wollen und schon ein Zugticket gekauft und Gulden in D-Mark
gewechselt. Aber kurz vor der Abfahrt habe sein Vater die Reise abgebrochen: "Ich gehe zu jedem
anderen Ort in Deutschland, aber nicht nach Leipzig." Auch für Stef Beumkes selbst war der erste
Besuch auf dem ehemaligen Werksgelände ein sehr emotionaler Moment. Er habe es nicht über
sich gebracht, das große Backsteingebäude zu betreten, von dem ihm sein Vater abendelang
erzählt hat und in dem "alle Verbrechen begangen wurden, die man sich vorstellen kann."
Vor genau diesem Gebäude steht jetzt Anja Kruse, schwarze Mütze, schwarze Haare, schwarze
Jacke, im Januarregen. In der Hand hält sie eine dicke Mappe voller Bilder. Sie zeigen das
HASAG-Gelände, die Fabriken, die Lager. Die meisten Gebäude sehen noch aus wie vor 75
Jahren, als Egbert Jan Beumkes hier schuftete. Kruse kennt zu jedem Foto die genaue
Perspektive, aus der es aufgenommen wurde. Drei Schritte nach hinten, zwei nach links, hier
muss es sein. Zu jedem Stein, jedem Weg, jeder Tür wartet sie mit Fakten auf. Kaum vorstellbar,
dass sie selbst kaum etwas über Zwangsarbeit wusste, als sie 2007 als Praktikantin zur
Gedenkstätte kam. "Obwohl ich mich für NS-Verbrechen und unsere Erinnerungskultur
interessiert habe und viele Gedenkstätten besucht habe - über das Thema wusste ich fast
nichts." Hier, in der Gedenkstätte, hatte sie "das totale Aha-Erlebnis". Heute sind es diese Aha-
Erlebnisse, die sie motivieren. Natürlich erreicht eine kleine Gedenkstätte in einem öden
Industriegebiet im Leipziger Nordosten nicht jeden. Zufallsbesucher sind rar. Viele sind ohnehin
interessiert - oder kommen, weil sie kommen müssen: Schulklassen gehören zur
Stammkundschaft. Kruse glaubt nicht, dass die Erinnerungskultur zur Zwangsarbeit "nochmal
einen Schub" erfahren wird. Aber: "Wenn von 30 Leuten zwei interessiert sind, ist das für mich ein
Erfolg."